Einleitung


 

Foto-Mappe aus dem Nachlass Döhlers Typische Album-Seite Köcherfliegenforscher Dr. Döhler

 


 

Nach dem Tode des Altmeisters der deutschen Köcherfliegenkunde, Dr. Walter Döhler, ging sein wissenschaftliches Erbe als Schenkung an das Forschungsinstitut Senckenberg in Frankfurt am Main. Neben den artenreichen Trocken- und Nass-Sammlungen hatte Döhler im Laufe seines langen Lebens mit unendlichem Fleiß eine fast vollständige Bibliothek sämtlicher Publikationen über Köcherfliegen (Trichoptera) zusammengetragen. Bis in sein letztes Lebensjahr hinein prüfte er genau alle Angebote der Antiquariate und scheute keine Kosten, um eine noch fehlende Arbeit zu erwerben.

 

Bei der Durchsicht der Doubletten, die in mehreren Kartons auf dem Dachboden seines Hauses gelagert waren, fand sich eine cirka 30 x 30 cm große schwarze Mappe mit dicken Kartonblättern. Auf jedem Karton waren 6 Porträtfotos von Naturwissenschaftlern, jedes oben und unten grob mit Versandtaschen-Klammern durchbohrt und dann geradezu angenagelt. Beigelegt war eine Kladde mit Seiten aus einem Schulheft, in der Döhler die Namen der porträtierten Personen handschriftlich vermerkt hatte. Auch auf die Rückseiten der Fotos hatte Döhler, anscheinend in großer Eile, die Namen der jeweils Porträtierten notiert, wobei einige Namen offensichtlich falsch geschrieben wurden, wie z.B. Krantz statt Kraatz, Kratsch statt Kratzsch, Mevis statt Meves, Nekring statt Nehring und Weyhmer statt weymer. Es könnten dies Hörfehler bei einem raschen Diktat gewesen sein, denn Döhler war, zumindestens im Alter, stark schwerhörig.

 

Döhler hatte diese Fotosammlung nie erwähnt und wohl schon vergessen, denn er führte sie nicht weiter, obwohl er in einem Briefumschlag die Kopien von Abbildungen einiger weiterer Personen beigelegt hatte. Da auf dem Schulheft steht „Walter Döhler, Riesa“, ist anzunehmen, dass die Fotosammlung bereits vor dem 2. Weltkrieg in seinen Besitz gekommen war, denn später lebte er im unterfränkischen Klingenberg am Main. Höchstwahrscheinlich hatte er die komplette Sammlung bei einem seiner Streifzüge durch die Antiquariate entdeckt und gekauft. Bei der außerordentlichen Akribie, mit der Döhler seine gesamten Insekten-Kollektionen und seine Bibliothek behandelte, ist es schwer vorstellbar, dass er selbst diese kostbaren Fotos so grob misshandelt hätte; sie waren wohl schon von einem Vorbesitzer (s. u.) auf den Kartons befestigt worden.

 

Viele der Porträts sind mit dem Autogramm des Fotografierten versehen, oft war auch der Geburtsort und das Geburtsdatum vermerkt. Leider sind einige Autogramme durch die von den Klammern verursachten Löcher teilweise zerstört, wie zum Beispiel das von N. G. Erschoff oder E. F. von Hohmeyer.

 

                                                                

 

Sechs Porträts (Aurivillius, Bergenstamm, Heylaerts, Meyer, Peters und Wacquant) tragen eine Widmung an Heinrich Benno Möschler. Möschler (1831-1888) war zunächst Kaufmann, dann Landwirt und schließlich Schmetterlingshändler  in der Nähe von Bautzen. Es ist gut möglich, dass er, wie viele Zoologen im 19. Jahrhundert, nicht nur Tiere, sondern auch die Porträts der Kollegen sammelte und die Fotomappe ursprünglich aus seinem Besitz stammte; in der Literatur ließ sich jedoch keinerlei Erwähnung darüber finden. Seine reiche Insektensammlung ging zum größten Teil an das zoologische Museum in Berlin.

 

Die insgesamt 139 Porträtfotos wurden mit einem Grafikprogramm am Computer bearbeitet, um Stockflecken und andere Verschmutzungen zu entfernen oder um verblasste Porträts wieder kontrastreicher darzustellen, wie z. B. die Fotos von R. Felder, P.C. Snellen, R. Crowfoot oder C. Hering. In den meisten Fällen wurden Döhlers Beschriftungen auf der Rückseite der Porträtfotos entfernt, um nicht von den Autogrammen der dargestellten Naturwissenschaftler abzulenken.

 

Für jedes der optimierten Bilder wurde eine Webseite angelegt und wo es möglich war, zu den dargestellten Personen die Lebensdaten und ihr wissenschaftlicher Werdegang in Kurzfassung vermerkt. Außerdem wurden - soweit vorhanden - die von Korschefsky (1937) zusammengestellten Schriftproben von Sammlungsetiketten beigefügt. Auf das jeweilige Autogramm wurde mit  hingewiesen;  bedeutet, dass es sich hierbei nicht sicher um ein Autogramm handelt.  ist die Beschriftung durch W. Döhler und  zeigt, dass es unsicher ist, wer dies schrieb.

 

Sehr hilfreich für die Zuordnung einiger wenig bekannter Hobby-Zoologen war das Handexemplar des Entomologen-Adressbuches „Énumeration des Entomologistes vivans“ (Silbermann, 1835) von Lucas von Heyden (1838-1915), heute im Besitz der Senckenbergischen Bibliothek. Zu den Daten vieler zeitgenössischer Entomologen hatte L. von Heyden handschriftlich persönliche Bemerkungen hinzugefügt, wie beispielsweise bei F. von Schenk : “Frederic Schenk von Schweinsberg-Woeldershausen, Geheimer Sekretär [durchgestrichen] Oberfinanzrath [durchgestrichen] Kammerherr [durchgestrichen] Ministerialrath [durchgestrichen] Präsident des Ministeriums der Finanzen“ oder bei F. Pech: „Pech, Franz, Naturalienhändler in Ofen (Goldene Entengasse Nr. 7), Tonkünstler beim Hoftheater (Lepidopt.)“.

 

Einige Porträts ließen sich trotz intensiver Recherche leider nicht sicher oder gar nicht zuordnen: Baumeister, Demath, Ehrhard, Wilhelm Henäcker, Georg Friedrich Kramer, Gustav A.F.W. Lenz, Mancke, Pictet, Russer, Seyffert und Sissons.

 

Es wurde versucht, anhand von zeitgenössischen Schilderungen oder Nachrufen dem jeweiligen Porträtierten einen biographischern Hintergrund zu geben; diese Texte sind in Kursiv gesetzt. Die hier dargestellten Naturwissenschaftler lebten in der Blütezeit der traditionellen taxonomisch-morphologischen Zoologie und waren fast alle von einer geradezu fanatischen Sammelwut und der schier unbezähmbaren Gier zum Entdecken neuer Arten besessen.

 

So hinterließ A. von Homeyer 35000 Schmetterlinge und dazu 900 Vogeleier, E. F. von Homeyer brachte es auf 20000  Vogelbälge, Nester und Eier und J. Rey auf 16000 Vogeleier. In dem Nekrolog des Arztes und Hobby-Lepidopterologen M. Wocke steht: „Seine Sammlung, das Werk seines Lebens, umfasst 42000 Falter, darunter 20 000 Mikros in cirka 3 000 Arten und 2548 Arten Großschmetterlinge“. Der Bildhauer F. Strecker sammelte sogar 200 000 Lepidopteren, meist aus den USA; in seinem Nachruf klingt leise Kritik an:“ Von einigen wurde er kritisiert auf Grund seiner mehr als großen Begierde, seine Sammlung zu vergrößern, doch dies kann man der Tatsache zuschreiben, dass seine Liebe und sein Enthusiasmus für die Wissenschaft stark waren, nie auch für einen Augenblick nachließen und jeden anderen Gedanken überschatteten.“ Diese Sammelleidenschaft wurde oft vom Vater auf den Sohn weitergegeben, wie z. B. bei C. und R. Felder oder von M. Wocke auf seine beiden Söhne Felix und Georg.

 

G. Mayr beschrieb in seinem Leben 155 Gattungen und 959 Arten von Hymenopteren, der Lepidopterologe A.R. Grote war Autor von mehr als 1000 Schmetterlingsarten, und der Kustos am Britischen Museum für Naturgeschichte A. C. Butler stellte allein an die 1000 neue Pieridae-Spezies (Lepidoptera) auf, von denen sich alllerdings später die meisten als Variationen herausgestellt haben.

 

Selbstverständlich schrieben sie mit dem gleichen Eifer kleine und auch umfangreiche Publikationen in großer Anzahl. Der Amerikaner S. H. Scudder veröffentlichte knapp 800 Publikationen, sein Landsmann A.R. Grote mehr als 500 und der Engländer A.C. Butler ebenfalls über 500 Arbeiten.

 

Manche verzichteten auf eine hoffnungsvolle Karriere, um sich ganz ihrem Zeit und Geld verschlingendem Hobby zu widmen. O. Hofmann bemerkt 1892 über seinen Bruder E.A. Hofmann, der den Apothekerberuf aufgab, um eine Assistentenstelle im Königlichen Naturalienkabinett in Stuttgart anzunehmen: „Seine Lieblingsbeschäftigung war ihm nun zum Beruf geworden, dem er sich mit vollstem Eifer hingebend widmete.“ Möschler schreibt 1888 über J. Schilde aus Bautzen: „Beamter der Landesständischen Bank daselbst, gab er seine Stellung auf, um eine Reise nach Panama zu unternehmen, wo er zu sammeln gedachte.“ 

 

Solche großen Forschungs- und Sammelreisen stellten hohe Ansprüche an die körperlichen Kräfte der Zoologen, wie A. Becker es 1876 deutlich sagt: „Sie können [aus diesem Reisebericht] ersehen, dass ich selbst die Naturalien sehr teuer erkaufen musste, dass nicht Jeder die Entbehrungen und Strapazen aushält, denn dazu gehört eine Kamelsnatur.“ Diese Reisen waren auch nicht ganz ungefährlich, wie H. T. Christoph erlebte, als er im Auftrage eines russischen Großfürsten unterwegs war: „Überdies, nachdem ich mit meinen wenigen Insekten den Rückweg zu den am Fuße des Berges meiner harrenden Kosacken antrat, überfielen mich drei Kerle und erleichterten meine Taschen um Uhr, Messer und Taschentuch. Da ich keinen Revolver bei mir hatte, fiel jeder Gedanke an Gegenwehr fort.“  Noch schlimmer erging es seinem Landsmann E. F. Eversmann; er gelangte gegen Ende 1820 als Kaufmann verkleidet bis Buchara, wurde entdeckt und zum Tode verurteilt; nur durch einen glücklichen Umstand wurde er vom Gouverneur begnadigt (Milkow 1960). Manche bezahlten ihre Liebe zur Entomologie sogar mit ihrem Leben, wie der junge Coleopterologe W. Fetting, der 1876 auf einer Sammelreise nach Sumatra krank und ohne ausreichende Finanzen elend zu Grunde ging..

 

Bei einigen der Porträtierten handelt es sich nicht um Wissenschaftler, sondern um bekannte Insektenhändler ihrer Zeit (O. Staudinger, W. Schlüter und G. Keitel), Instrumentenbauer (L. Kappeller) oder Tiermaler wie A. Harzer und H. E. Dresser. Auch die anderen waren keineswegs immer von Beruf Naturwissenschaftler, sondern in vielen Fällen reine Hobby-Entomologen oder –Ornithologen. Sie kamen aus allen Schichten der Bevölkerung vom Mediziner (wie z.B. W. Blasius, E.F. Eversmann, G. Herrich-Schäffer, A. Pagenstecher und viele mehr) bis zum Bürgermeister (C. Felder), vom Landwirt (A. Kuwert) bis zum Steuerbeamten (A. Hartmann) und vom Hofkonditor (A. Roeder) bis zum Schauspieler (F. Ochsenheimer); es gab sogar einen Kammmacher (C. Plötz) unter ihnen. Der Nachruf über den Landwirt Kuwert beschreibt es gut: „Die Entomologie kann sich auf die Wirkung ihres umstrickenden Zaubers etwas zu Gute halten, dass ein Mann, der mitten in den Mühen und Sorgen des practischen Lebens stand, dem eine Reihe von communalen Ehren- und Verwaltungsämtern von seinen Standesgenossen aufgelegt wurde, sich jeder freien Minute beraubte, um der Beschäftigung mit ihr zu huldigen.“ Diese Besessenheit, mit der sich viele dieser Zoologen ihrer Lieblingsbeschäftigung, dem Sammeln und Bestimmen von Insekten und Vögeln, widmeten, ließ sie aber auch oft vereinsamen. Über R. Felder heißt es „die Studierstube war seine Welt“ und über H. Burmeister schreibt Müller (1887): „Dieser energische Mann .. stellt an sich selbst Forderungen, wie sie nur Wenige zu leisten im Stande sind und darum ihm nicht genügen. So findet er bei seinem vereinsamten, herben Wesen, seine Welt eben nur in seiner Wissenschaft.“

 

Wenn Schicksalsschläge, das Alter oder körperliche Beschwerden solchen fanatischen Forschern die wissenschaftliche Arbeit unmöglich machte, verloren sie oft völlig den Lebensmut. Über den Maler und Kupferstecher C. Harzer steht im Nekrolog: „Im Sommer 1845 verlor er durch den Brand den schönsten und besten Theil seiner Sammlungen und Manuskripte; es war dieß für ihn der härteste Schlag des Schicksals. Seine Gesundheit war ganz gebrochen und seine Kraft gewichen, es blieb ihm keine Hoffnung und auch kein Wunsch mehr als das Grab.“ Die letzten Worte von A. Becker waren: „Wenn ich nicht mehr arbeiten kann, warum soll ich dann noch leben?“ und C. Plötz beging aus Furcht vor der drohenden Erblindung gar Selbstmord!

 

Selbst durch den Tod wollte G. Kraatz nicht von seiner riesigen Insektensammlung getrennt werden und so bat er darum, dass die Urne mit seiner Asche im Entomologischen Nationalmuseum in Berlin im Sammlungsraum für Staphylinidae (Coleoptera) aufgestellt werde (K. J., 1910).

 

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Dagmar Tobias (2008): Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts in 139 Porträts.- HTML Dokument.